Um die komplexen dynamischen und chemischen Vorgänge in der Erdatmosphäre zu verstehen sind mit Fernerkundungsmethoden gewonnene Meßdaten von großer Bedeutung. Einen kontinuierlichen, globalen Überblick über den Atmosphärenzustand verschaffen hierbei nur Satellitenexperimente. Deren umfangreiche und genaue Meßdaten werden zwingend benötigt zur Validierung und Verbesserung von Atmosphärenmodellen, in denen das tatsächlich vorhandene Wissen über viele Vorgänge innerhalb der Erdatmosphäre zusammengefaßt ist.
Seit März 2002 befindet sich der europäische Umweltforschungssatellit Envisat im All. Ein Instrument an Bord der Plattform ist MIPAS (Michelson Interferometer for Passive Atmospheric Sounding), das die am Erdhorizont entstehenden thermischen Eigenemissionen von atmosphärischen Bestandteilen wie Spurengasen, Aerosolen und Wolken vermißt. Aus den von MIPAS gemessenen Infrarot-Strahlungsspektren werden im sogenannten Retrievalprozeß die tatsächlich interessierenden Atmosphärenparameter wie Druck, Temperatur und Spurengaskonzentrationen abgeleitet. Kennzeichen von MIPAS ist das hohe spektrale Auflösungsvermögen, das die Auswertung besonders vieler verschiedener Spurengase ermöglicht.
Die Auswertung von Satellitendaten ist bereits aufgrund von deren Umfang ein sehr aufwendiger Vorgang. Allein während einer Erdumrundung liefert Envisat MIPAS etwa 300 Megabyte an Meßdaten. Bei zukünftigen Experimenten, wie dem von den Forschungszentren Jülich und Karlsruhe vorgeschlagenen Instrument GLORIA (Global Limb Radiance Imager for the Atmosphere), werden die anfallenden Datenmengen noch um mehrere Größenordnungen anwachsen. Eine wichtige Komponente in der Datenauswertung atmosphärischer Fernerkundungsmessungen ist das Vorwärtsmodell, mit dem die Messungen eines Instruments für einen gegebenen Atmosphärenzustand simuliert werden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde das besonders schnelle und flexible Vorwärtsmodell JURASSIC (Juelich Rapid Spectral Simulation Code) entwickelt. Darauf aufbauend wurde ein innovatives Retrievalsystem entworfen, das außer zur Auswertung konventioneller Satellitenmessungen, wie denen von Envisat MIPAS, auch ein Grundbaustein bei der Auswertung zukünftiger Experimente wie GLORIA sein kann. Die Beschreibung von Aufbau und Anwendungsmöglichkeiten von JURASSIC und des darauf aufbauenden Retrievalsystems sind Gegenstand dieser Arbeit.
Das JURASSIC Retrievalsystem wurde eingesetzt, um die globale Verteilung der Fluorchlorkohlenwasserstoffe CFC-11 und CFC-12 aus Envisat MIPAS Strahlungsmessungen abzuleiten. Diese Gase werden im operationellen ESA Retrieval nicht ausgewertet. Die wissenschaftlichen Retrieval anderer Arbeitsgruppen umfassen meist nur einen kleinen Teil aller vorhandenen Messungen. Im Gegensatz dazu deckt die hier durchgeführte Ableitung den Zeitraum von Juli 2002 bis März 2004 vollständig ab. Möglich wird dies überhaupt erst, weil JURASSIC eine sehr schnelle Vorwärtsmodellierung erlaubt. Die abgeleiteten Daten wurden mit externen MIPAS Auswertungen verglichen sowie mittels unabhängiger Messungen validiert und sind damit für die weitere wissenschaftliche Auswertung geeignet.
CFC-11 und CFC-12 sind langlebige Spurengase, die besonders für dynamische Studien im Bereich der oberen Troposphäre und unteren Stratosphäre nützlich sind. Im Rahmen der Arbeit werden zonale Mittelwerte und Standardabweichungen analysiert, die wesentlich durch die mittlere residuale Zirkulation der Stratosphäre und die Aktivität planetarer Wellen beeinflußt sind. Die MIPAS Datensätze sind besonders hilfreich, da sie das Studium des saisonalen Verlaufs dieser Prozesse ermöglichen. Zusätzlich sind die im Rahmen der Arbeit abgeleiteten CFC-11 und CFC-12 Datensätze sehr gut geeignet, um Einzelereignisse mit außergewöhnlichen dynamischen Verhältnissen zu untersuchen. Exemplarisch betrachtet wird hier das antarktische Major Warming Event im September 2002, bei dem erstmalig eine Aufspaltung des Südpolarwirbels in zwei Teilwirbel beobachtet wurde. CFC-11 und CFC-12 Messungen während dieses Zeitraums werden mit einer Simulation des Atmosphärenmodells CLaMS (Chemical Lagrangian Model of the Stratosphere) verglichen, mit dem derartige Vorgänge besonders detailliert untersucht werden können.