Kultur produziert seit Beginn ihrer Existenz Zeichen und Artefakte. Zu den kulturell prägenden Artefakten kann ohne Zweifel die Architektur gezählt werden. Innerhalb der westlichen Kultur prägte wiederum das klassische Decorum, eine Einheit aus Form und Inhalt/Bedeutung, mit seinen Gestaltungsregeln das Bauwesen über einen Zeitraum von einigen 1000 Jahren. Auf Basis neuerer evolutionsbiologischer Erkenntnisse und Theorien kann vermutet werden, dass die Kultur, ihre Organisations- und Gestaltungsregeln und ihre artifiziellen Lebensräume, alsodie Architektur, Einfluss auf die Entwicklung der sie bevölkernden Menschen genommen hat.
Eine erste kulturantrophologische Spurensuche nach Indizien einer solchen kulturellen und biologischen Co-Evolution erfolgt durch die Forschungsgruppe TRACE (jetzt Labor für neurophysiologische Kognitionsforschung an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe) anhand neurowissenschaftlicher Architekturwahrnehmungsexperimente. Im Speziellen behandelt die Arbeit daher die Besonderheiten des Zeichnens für neurowissenschaftliche Experimente sowie die Interpretation deren Ergebnissen vor einem evolutionsbiologischen, architekturgeschichtlichen und kulturellen/gesellschaftlichen Hintergrund.
Da die Skizze nach wie vor als direkteste Verbindung zwischen der Idee und ihrer Umsetzung betrachtet wird, erscheint diese Darstellungsform als angemessen, um die Vielzahl an benötigten, den wissenschaftlichen Anforderungen genügenden, Stimuli herzustellen. Die Stimuli wurden dabei nach einem einheitlichen, an das Decorum angelehnte, Regelsystem gezeichnet. Die so entstandenen Architekturskizzen lassen sich aufgrund ihrer Gestalt in zwei Klassen einteilen: eine Klasse der High-Ranking-Gebäude und eine Klasse der Low-Ranking-Gebäude.
Das durch die Experimente gewonnene neurophysiologische Korrelat der Architekturwahrnehmung zeigt deutliche Unterschiede zwischen den beiden Architekturklassen. Aufgrund dieser Ergebnisse kann vermutet werden, dass High-Ranking- Architekturen bei einem entsprechend enkulturierten Betrachter einen Familarity-Effekt auslösen. Die kulturellen Gestaltungsregeln schlagen sich somit auf einer neuronalen, unbewussten Ebene nieder und lassen Kultur damit theoretisch erstmals von einem Standpunkt außerhalb des Bezugssystems Kultur beschreiben. Die aus dieser Perspektive gewonnene Einsicht in die Kultur könnte hilfreich sein, um drohende Kulturkatastrophen besser zu verstehen und ihnen eventuell sogar gezielt entgegen zu wirken.